In Berlin spielt die Musik – so heißt
es immer – stimmt das? Oder spielt dort nur noch die begleitende und
akzentuierende Hintergrundmusik? Europa wächst – dies nicht nur
geografisch sondern auch im Hinblick auf die Anzahl der europäischen
Rechtsvorschriften. Ein Großteil unserer deutschen Rechtsvorschriften
hat inzwischen ihren Ursprung in Brüssel.
Die Europäische Kommission hat das Initiativmonopol: Sie kann
Vorschläge für europäische Richtlinien, die später in nationales Recht
umgesetzt werden müssen, und Verordnungen, die unmittelbar gelten,
vorlegen. Ob und wie diese Initiativen dann als europäische
Rechtsvorschriften erlassen werden, entscheiden in den meisten Fällen
das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union gemeinsam.
Initiativen der Europäischen Kommission sind aber meistens nicht mehr
aufzuhalten – damit kommt ihr eine wichtige Rolle im europäischen
Rechtsetzungsverfahren zu. Der Einfluss Berlins, der Bürger und
Unternehmer ist gleichwohl gegeben: Über den Rat der Europäischen Union
kann die Bundesregierung ihre Position zu den Rechtsetzungsvorhaben in
Europa einfließen lassen. Der Bundestag und gegebenenfalls der
Bundesrat sind an der Willensbildung der Bundesregierung beteiligt.
In diesem Zusammenhang wird derzeit u. a. eine größere Einflussnahme
des Bundestages auf die Entscheidungen der Bundesregierung im Rat und
stärkere Informationspflichten der Bundesregierung gegenüber dem
Bundestag diskutiert. Der Bürger und Unternehmer ist ferner über den
von ihm gewählten Abgeordneten im Europäischen Parlament repräsentiert;
die Deutschen stellen 99 von insgesamt 732 europäischen Abgeordneten.
Alle drei europäischen Institutionen, also Kommission, Rat und
Parlament, sind Gesprächs- und Diskussionspartner der IHK-Organisation,
um die Bedürfnisse und Forderungen der Unternehmen in den europäischen
Meinungsbildungs- und Rechtsetzungsprozess einzubringen. Besonders
wichtig ist dabei, schon vor der Präsentation einer
Kommissionsinitiative die Position und Forderungen der deutschen
Wirtschaft gegenüber der Kommission darzustellen.
Von dem europäischen Entwurf bis zum deutschen Gesetz
Von der Vorlage eines Vorschlages der Kommission bis zur Verabschiedung
durch Rat und Parlament vergehen durchschnittlich zwei bis drei Jahre.
In den letzten Jahren wurden allerdings einige der Verfahren in
wesentlich kürzerer Zeit beendet. Handelt es sich um eine europäische
Richtlinie, so muss der deutsche Gesetzgeber, der Bundestag und in
Fällen, in denen die Bundesländer berührt werden, auch der Bundesrat,
noch ein Gesetz oder eine Verordnung erlassen, um die europäischen
Vorschriften auf nationaler Ebene umzusetzen. Er hat in der Regel zwei
Jahre Zeit, um seine nationalen Regelungen zu beschließen. Bei
europäischen Verordnungen ist dieser Umsetzungsakt nicht erforderlich.
Diese gelten unmittelbar in allen Mitgliedstaaten.
Auf was sollten sich die Unternehmen einstellen?
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Verbesserung der Rechtsetzung
Vorrangiges Ziel der Kommission ist die Verbesserung der europäischen
Rechtsetzung. Sie hat sich vorgenommen, alle ihre Vorschläge auf deren
Auswirkungen auf wirtschaftliche, soziale und umweltbezogene Aspekte zu
überprüfen. Diese so genannte "integrierte Folgenabschätzung" soll auch
für bereits vorgelegte Kommissionsvorschläge, über die der Rat und das
Europäische Parlament noch nicht entschieden haben, nachträglich
durchgeführt werden. In Einzelfällen sollen diese Vorschläge geändert,
ersetzt oder zurückgenommen werden. Einige der bereits geltenden
EU-Richtlinien sollen zudem überarbeitet werden. Eine entsprechende
Auflistung der zu überarbeitenden europäischen Vorschriften wurde
bereits beschlossen.
Zudem fordert die Kommission die Mitgliedstaaten auf, auf nationaler
Ebene Folgenabschätzungen in ihr Rechtsetzungsverfahren zu integrieren
und dabei auch die Auswirkungen auf den Binnenmarkt und andere
Mitgliedstaaten einzubeziehen. Daneben sollen die Mitgliedstaaten ihre
geltenden nationalen Vorschriften auf Vereinfachung überprüfen und auch
bei der Umsetzung von Gemeinschaftsrecht das Ziel einer schlanken
Rechtsetzung berücksichtigen.
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Vollendung des Binnenmarktes
Schon 1957 bei der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
standen folgende Ziele im Vordergrund: Niederlassungs-,
Dienstleistungs-, Warenverkehrs- und Kapitalverkehrsfreiheit. Jeder
europäische Bürger kann sich in allen anderen Mitgliedstaaten
niederlassen, als Arbeitnehmer oder Selbständiger. In Deutschland ist
die Arbeitnehmerflexibilität für eine Übergangsfrist von
voraussichtlich sieben Jahren für die Bürger der neuen Mitgliedstaaten,
unter Ausnahme von Malta und Zypern, durch eine
Arbeitsgenehmigungspflicht eingeschränkt. Selbständige können sich in
anderen europäischen Mitgliedsstaaten ungehindert niederlassen. Dies
gilt auch für die neuen Mitgliedsstaaten seit dem 1. Mai 2004.
Die Warenverkehrsfreiheit, also die Möglichkeit, dass Waren, die in
einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt oder in den Verkehr gebracht
werden, in ganz Europa vertrieben werden können, ist grundsätzlich
gegeben. Im Gegensatz dazu bestehen bei der Dienstleistungsfreiheit
noch größere Schranken und Besonderheiten bei Dienstleistern aus den
neuen Mitgliedstaaten. Ein in Deutschland rechtmäßig tätiger
Dienstleister soll zukünftig die Möglichkeit haben, seine
Dienstleistungen zum Beispiel auch in Frankreich oder Belgien
vorübergehend anbieten zu können, ohne dass er die gewerberechtlichen
Zulassungsvorschriften in Frankreich oder Belgien erfüllen muss. Der
Vorschlag der Kommission zur weiteren Vollendung der
Dienstleistungsfreiheit, die so genannte Dienstleistungsrichtlinie,
wird derzeit sowohl auf europäischer wie auch deutscher Ebene heftig
diskutiert. Sowohl bei der Dienstleistungs- als auch bei der
Kapitalverkehrsfreiheit sind die Binnenmarktziele bislang noch nicht
vollständig erreicht.
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Mehr Flexibilität für die Unternehmen
Deutsche Unternehmen sollen in zwei bis drei Jahren mit
Kapitalgesellschaften aus anderen Mitgliedstaaten fusionieren und auch
ihren Sitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegen können, ohne dass
das Unternehmen vorher liquidiert werden muss. Europäische
Rechtsformen, wie die Europäische Aktiengesellschaft, stehen bereits
zur Verfügung; über die Entwicklung einer europäischen
Privatgesellschaft für mittelständische Unternehmen wird nachgedacht.
Allerdings haben diese neuen Möglichkeiten auch eine Kehrseite.
Deutsche mitbestimmte Unternehmen werden in vielen Fällen
Wettbewerbsnachteile bei der Suche nach einem Fusionspartner oder
Partner für die Europäische Aktiengesellschaft haben, da sie in vielen
Fällen die deutsche Mitbestimmung, die es in den anderen
Mitgliedstaaten in dieser Form nicht gibt, in das neue Unternehmen
hineintragen. Darüber hinaus wurden in den letzten Jahren in einigen
Branchen Harmonisierungen vorgenommen. So werden zum Beispiel in
Deutschland niedergelassene Versicherungsvermittler nach Erlass der
nationalen Umsetzungsvorschriften auch in anderen Mitgliedstaaten ihre
Dienstleistungen anbieten können.
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Neue Regelungen in zahlreichen Bereichen
Durch detaillierte Regelungen, die oftmals zu neuen Verpflichtungen der Unternehmen führen, wird andererseits der Unternehmer aber auch massiv belastet. Die Planungen für die europäische Chemikalienverordnung "REACH", neue Kennzeichnungspflichten, zum Beispiel für nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben auf Lebensmitteln oder eine Erweiterung der Anhangsangaben in den Bilanzen, sind für die Unternehmen von großer Bedeutung. Es bleibt zu hoffen, dass die Ankündigung des Binnenmarkt-Kommissars Charlie McCreevy ernst gemeint ist, wenn er sagt, dass "schlechte Regulierungen" in den nächsten Jahren vermieden werden sollen. Unter "schlechten Regulierungen" versteht er zum Beispiel Arbeitszeitbeschränkungen, die die Unternehmen in ihrer Wettbewerbsfähigkeit einschränken oder Bürokratielasten durch Berichtspflichten.