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01.08.2007

Der indische Traum


Dieser Text ist vom 01.08.2007 und könnte inhaltlich veraltet sein.

Von Slums und Hightech

Mumbai International Airport, nachts um 2 Uhr: 30 Grad Celsius, die Luft ist schwül und stinkt. Die Anreise war lang, die Frisur sitzt schon lange nicht mehr. Hier bekommt sie den Rest. Egal, den anderen Reisenden geht es auch nicht besser. Irgendwann hat man sich durch das Spalier von Hunderten Inder gekämpft. Die meisten hoffen auf einen Dollar – für was auch immer. Die Fahrt im eisgekühlten Bus führt durch die Dunkelheit. Gut so, wie man erst am nächsten Tag lernt. Dann, endlich, das Hotel. Sauber, klimatisiert, eine Insel der Geborgenheit. Nach 30 Minuten wird der Koffer gebracht, es ist 4 Uhr. Indien muss bis morgen warten.

Schock für Neulinge
Bei Licht und ungeschminkt ist Indien für Neulinge ein Schock. Klima, Kultur, Infrastruktur: alles ist anders als gewohnt. Vieles fasziniert, vieles erschreckt. Nirgendwo wird das deutlicher als in Mumbai, das früher Bombay hieß. Der pulsierende 18-Millionen-Moloch an Indiens Westküste ist eine Stadt der Gegensätze. Davon gibt es zwar viele auf dem indischen Subkontinent. Aber keine, die so groß ist.
In Mumbai schlägt das wirtschaftliche Herz Indiens. Die Hauptstadt des Bundesstaates Maharashtra ist Industrie-, Handels- und Finanzmetropole in einem und der Verkehrsknotenpunkt schlechthin. Fast zwei Fünftel des indischen Bruttoinlandsprodukts werden hier erwirtschaftet. Eine Stadt, die Reichtum produziert. Die Symbole sind unübersehbar: schicke Hotels, teure Verwaltungsbauten, edle Clubs und teure Firmenfassaden. Eine Welt aus Hochglanz. Apropos Hochglanz: 900 Spielfilme werden jedes Jahr in Mumbai produziert. „Bollywood“ hat mittlerweile die größte Filmindustrie der Welt. Eine Stadt, die Träume produziert.

Slums und Hightech
Das Trauma wartet gleich nebenan und hat viele Gesichter. Ganze Häuserzeilen, die vor sich hin rotten. Dreck, Müll und Schutt überall. Dazu ein chaotischer Verkehr, der sich die schlechten Straßen mit Massen von Menschen teilt, die am Straßenrand sitzen, liegen, schlafen, betteln. Manchmal auch mitten zwischen den Autos. Man schätzt, dass zwischen 60 und 70 Prozent der Menschen in Mumbai in Slums hausen oder überhaupt keine feste Bleibe haben. Und täglich werden es mehr. Dharavi in Mumbai gilt mit über einer Million Bewohnern als größter Slum Asiens, ohne Kanalisation, Strom oder Trinkwasser. Eine Stadt, die buchstäblich zum Himmel stinkt. Eine Stadt, die Elend produziert.
Und doch ist da Aufbruchstimmung. Man spürt sie in den Konferenzen, wenn indische Politiker von der Zukunft reden. Man spürt sie in den Fabriken, bei Managern und Beschäftigten, die stolz ihre Produktion zeigen, durchaus auf europäischem Level übrigens. Und in der Tat, es ist viel passiert in den letzten 15 Jahren. Seit die Regierung einen deutlich liberaleren Wirtschaftskurs fährt, hat sich das Land der Welt geöffnet. Firmen und Gewerbeparks sind entstanden, wo vor kurzem noch Brache war. Vor allem in der Automobilindustrie, der Chemie, bei Elektronik und Elektrotechnik hat Indien aufgeholt.

Krieg um Talente
Indien hat große Träume. Einige davon sind bereits greifbar. Zum Beispiel in Bangalore, einer Stadt im Süden. Im neuen „Silicon Valley“, wie Inder stolz behaupten, schießen seit Jahren Elektronik-, IT- und Software-Firmen wie Pilze aus dem Boden. Das „Backoffice“ der internationalen Software-Welt möchte man werden. Der Boom lockt nicht nur Firmen, sondern auch Menschen. Viele Menschen. In wenigen Jahren hat sich die Bevölkerung von Bangalore auf 8 Millionen verdoppelt. Krasse Gegensätze gehören auch hier zum indischen Alltag: glitzernde Glasfassaden neben grauen Slum-Hütten, Hochglanzfirmen neben Baracken, Dreck und Müll. Nicht für jeden erfüllen sich Träume.
Und noch etwas lernt man in Bangalore. In den Boombranchen werden die Facharbeiter knapp. Obwohl die Hochschulen Jahr für Jahr 280 000 Ingenieure ausspucken. Nicht nur der deutsche Elektronikriese Bosch, der seinen Hauptsitz in Bangalore hat, weiß davon ein Lied zu singen. Seit Jahren herrscht ein „Krieg um Talente“, wie Dr. Albert Hieronimus es drastisch ausdrückt. Der Mico Bosch-Chef in Indien weiß, wovon er spricht. Seit Jahren steigen die Löhne in seiner Branche kräftig an, 15 Prozent pro Jahr sind normal. Knapp 500 Euro monatlich verdienen indische Facharbeiter inzwischen. Ingenieure sind für knapp 10.000 Euro pro Jahr zu haben – noch!

Boom treibt die Preise
Der Hype treibt nicht nur die Preise, sondern auch die Fluktuation. Bei Solectron Centum, einem Hersteller von Elektronik-Komponenten in Bangalore, ist ein jährlicher Personalwechsel von über 30 Prozent „üblich“. Auch andere Firmen klagen über den Schwund. Indische Elektronikspezialisten wissen eben, was sie wert sind. Vor allem wissen sie, dass sie gefragt sind. Bietet der Nachbarbetrieb mehr, sind sie weg. Es herrscht Goldgräberstimmung, Geld regiert auch die indische Welt. Übrigens: Solectron scheint es zu verschmerzen. Die Firma ist in zwölf Jahren von 0 auf 45 Millionen Dollar Umsatz und 800 Beschäftigte gewachsen. Erfolgsstories made in India.
Dass Indien nicht nur Traumjobs zu vergeben hat, zeigt ein letzter Szenenwechsel zurück nach Mumbai. Dort gibt es das so genannte „Open Laundry“, ein eigenes Waschviertel. Ein in Stein gehauener Alptraum. Unter freiem Himmel schuften dort 10 000 Menschen dicht an dicht. In hunderten von Becken mit Lauge werden Wäschestücke aus Hotels, Restaurants oder auch Privathaushalten gewaschen und auf Beton ausgeschlagen. Gebügelt wird mit Bügeleisen, die mit glühender Kohle betrieben werden. Die Tortur dauert 14 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche. Verletzungen und Krankheiten sind an der Tagesordnung. Gezahlt werden Hungerlöhne ohne jegliche soziale Absicherung. Und doch sind die Menschen froh, dass sie Arbeit haben.

Indien braucht Zeit
Wohin driftet das Riesenland? Man sieht und spürt, dass Indien nach vorn will. Ein Land im Aufbruch, ein Land mit viel Potenzial. Aber der Sprung vom Entwicklungsland in die Moderne lässt sich nicht im Handumdrehen bewältigen. Indien ist eine demokratische Republik mit 28 Bundesstaaten, da dauert manches ohnehin länger. „Geben Sie Indien noch etwas Zeit“, wirbt der deutsche Botschafter Bernd Mützelburg in New Delhi. Der Ratschlag gilt auch umgekehrt. Wer mit Indien ins Geschäft kommen will, braucht viel Zeit. Kontakte müssen geknüpft, Beziehungen aufgebaut werden. Der Subkontinent ist kein Markt für Goldgräber und Abenteurer. Und er ist sicher auch nicht für jeden Mittelständler geeignet. Aber er bietet Chancen für die Zukunft. Ein Markt, den man nicht verschlafen sollte.

Andreas Henkel

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