Von Kannibalismus kann zwar noch keine Rede sein, dennoch gräbt der E-Commerce dem stationären Handel jedes Jahr weitere Marktanteile ab. Das passiert vor allem zu Lasten des kleinbetrieblichen Fachhandels. Dennoch gibt es Hoffnung. Händler und Gemeinden müssen den online-affinen Bürger verstehen, akzeptieren und dort abholen, wo er steht.
Der Konsument von heute stellt hohe Anforderungen an den Einzelhandel. Höhere als noch die Generationen vor ihm. Ursache dafür ist vor allem das Internet. Informationen sind jederzeit und überall verfügbar, die Auswahl an Produkten scheint schier endlos und im Bild des Höhlenmenschen gesprochen, muss der Kunde im Zweifel nur noch zum Empfang des Päckchens vor sein Loch. Den Dreiklang von überall, jederzeit und zeitsparend fordert der Konsument auch vom stationären Einzelhandel ein. Der muss reagieren, um den Anschluss nicht zu verpassen. Kommunen sind hingegen gefordert, das Einkaufserlebnis auf andere Weise zu verbessern und so wieder für mehr Frequenz in den Innenstädten zu sorgen.
Ein Problem mit der Besucherfrequenz hat Trier jedenfalls nicht. Das bescheinigte Boris Hedde, Geschäftsführer des Instituts für Handelsforschung, dem Trierer Oberbürgermeister Wolfram Leibe beim Wirtschaftsforum E-Commerce im Tagungszentrum der IHK Trier. Die IHK ging während des Forums der Frage nach, ob der E-Commerce eher als Vitaminspritze für den Handel oder als Totengräber für die Innenstädte zu sehen ist. Hedde zieht gegen Ende das Fazit: „Pauschal lässt sich das nicht beantworten.“ Es gebe Gewinner und Verlierer und irgendwo dazwischen viele Chancen und Herausforderungen, die sich den Händlern bieten. Aber der Reihe nach.
Umsätze steigen on- wie offline
Ein Blick auf die Umsatzzuwächse verrät: Auch der stationäre Handel konnte seinen Umsatz in den vergangenen zehn Jahren steigern. Mit rund 18 Milliarden Euro allerdings deutlich weniger als sein Online-Pendant mit insgesamt 56 Milliarden Euro. Allein auf Kosten des stationären Handels scheint der Siegeszug der Onliner daher nicht zu gehen. Hedde formuliert es deutlich: „Von einem Kannibalisierungseffekt kann keine Rede sein.“ Dennoch gibt es bei genauerer Betrachtung sowohl Gewinner als auch Verlierer. Der stärkste Umsatzgewinner ist wenig überraschend der Onlinehandel mit jährlich 13,9 Prozent Zuwachs. Auch die Fachmärkte, Filialisten, Supermärkte und Discounter können mit jeweils etwa 3 Prozent ihre Position am Markt stärken. Zu Lasten geht das vor allem auf Kosten des kleinbetrieblichen Fachhandels, der mit 3,1 Prozent der größte Verlierer vor Kaufhäusern und SB-Warenhäusern mit Verlusten unter 1 Prozent ist. Dann wirft Hedde eine Folie an die Wand, die zum Stimmungskiller taugt. Hatte der kleinbetriebliche Fachhandel zwischen 2010 und 2014 „lediglich“ 5,6 Prozent des Jahresumsatzes eingebüßt, befand er sich nur ein Jahr später mit einem Verlust von mehr als 30 Prozent im freien Fall.
Der Konsument wird immer anspruchsvoller
Warum das so ist, zeigt ein Blick auf die Konsumenten. Auch dort hat sich laut Hedde in den vergangenen Jahren einiges getan. „Wir haben einen unglaublich anspruchsvollen und verwöhnten Kunden entwickelt.“ Laut Hedde stellen Konsumenten bereits jetzt enorm hohe Forderungen an den stationären Handel. Fast 80 Prozent der Konsumenten fordern vor allem eine große Auswahl und eine garantierte Verfügbarkeit von Produkten. Die junge Zielgruppe der Smart Natives stellt diese Forderung sogar zu 90 Prozent. Auch sonst liegt das Anspruchsniveau der Smart Natives über dem der traditionellen Konsumenten. Besonders deutlich wird der Unterschied bei der Verknüpfung von Onlineangeboten mit dem stationären Angebot. Junge Leute fordern viel mehr, dass man die Ware auch bei einer Onlinebestellung im Geschäft vor Ort zurückgeben kann. Auch wünschen sie sich alternative Kaufmöglichkeiten im Online-Shop des Händlers sowie eine Verfügbarkeitsprüfung für einzelne Produkte im Internet.
Immerhin stellen die sogenannten Multichannel-Händler, also Händler, die Waren sowohl on- als auch offline vertreiben, seit 2016 mit mehr als 50 Prozent die größte Gruppe im Einzelhandel dar, 30 Prozent der stationären Händler verzichten allerdings immer noch komplett auf ein zusätzliches Online-Angebot. Zwar geht für Hedde der Trend in die richtige Richtung, aber noch nicht weit genug – denn nur noch 24 Prozent der Bevölkerung gibt an, nicht gerne im Internet einzukaufen. 2012 bevorzugten noch etwa 50 Prozent der Bevölkerung den rein stationären Handel. Das hat sich nun geändert. Fast 60 Prozent selektieren, also kaufen bestimmte Produkte wie CDs und Bücher generell im Internet, suchen aber für wieder andere Produkte die Beratung im Geschäft auf. Auch im Kaufprozess zeigt sich, dass Kunden gerne auf verschiedene Informationsquellen zurückgreifen. 45 Prozent der Einkäufe im Geschäft geht eine Informationssuche im Internet voraus. In der jungen Zielgruppe sind es mit 54 Prozent sogar noch mehr.
Kunden nutzen Onlinepreis als Argument
Andersherum gilt das allerdings nicht mehr so stark wie früher. Bei 81 Prozent aller Onlinekäufe haben sich die Kunden ausschließlich im Internet über die Produkte informiert. Lediglich 14 Prozent führen ihre Kaufentscheidung auf eine Beratung im Geschäft zurück. Ein Wert, den auch Karin Kaltenkirchen, Geschäftsführerin des Modehauses Marx in Trier, nachvollziehen kann. Die meisten Kunden, die sich in ihrem Geschäft informieren, kaufen auch dort. Ab und zu komme es schon vor, dass Kunden in ihrem Geschäft mit Preisen argumentieren, die sie im Internet gefunden haben.
Trierer setzt früh auf die virtuelle Ladentheke
Der Trierer Unternehmer Rudolf Berg hat bereits sehr früh auf das Internet als weiteren Vertriebskanal gesetzt. „Vielleicht zu früh“, wie er in der Diskussionsrunde verrät, der neben Karin Kaltenkirchen, Boris Hedde und Wolfram Leibe auch der Wittlicher Bürgermeister Joachim Rodenkirch angehört. Rudolf Berg führt das Familienunternehmen Schuh Berg, das bereits seit 35 Jahren mit einem Geschäft in der Innenstadt vertreten ist. Sein erster Schuh wanderte bereits 2000 über den digitalen Ladentisch. „So richtig gut gelaufen ist das damals aber noch nicht“, erinnert sich Berg. Danach verstrich etwas Zeit, es folgten erste Versuche auf dem Online-Marktplatz E-Bay. Der eigene Shop ging dann schließlich vor neun Jahren an den Start. Seine Produkte fotografieren er und sein Team selbst und stellen sie anschließend in den Online-Shop ein. „Das war besonders am Anfang sehr viel Aufwand, aber es hat sich gelohnt“, resümiert er. Berg erzielt jetzt etwa 40 Prozent seines Umsatzes im Internet. „Man kann wirklich sagen, dass das Onlinegeschäft eine Vitaminspritze für uns ist.“ Denn durch den zusätzlichen Umsatz könne er auch in seinem traditionellen Geschäft viele Schuhe anbieten, deren Verkauf sich sonst nicht rechnen würde. Mittlerweile, so sagt er, könne man auch deutlich einfacher einen Online-Shop erstellen. Berg spricht beispielsweise von Schnittstellen zu Bezahldienstleistern, die sich heute relativ leicht auf der eigenen Internetseite einbinden lassen. „Früher musste man sich da eigene Lösungen überlegen.“
Als Thomas Roth, Chefredakteur des Trierischen Volksfreunds, in seiner Rolle als Moderator nach Bergs Wünschen an die Stadt Trier fragt, entlockt er ihm den gleichen Wunsch, den vorab auch schon Karin Kaltenkirchen geäußert hatte. „Die Parkplatzsituation in der Stadt muss sich verbessern.“ Eine Forderung, die Oberbürgermeister Wolfram Leibe zum Konter auffordert. Die Parkhäuser in Trier seien an lediglich fünf Tagen im Jahr komplett belegt. „Alle Fachleute sagen, dass wir genügend Parkhäuser haben.“ Das Problem sieht Leibe vielmehr im Suchverkehr nach einem freien Stellplatz. Freie Parkplätze sollen ab dem 5. Mai bereits bei der Einfahrt in die Stadt erkennbar sein und den Verkehr zielgerichtet zum jeweiligen Parkhaus lotsen. Ebenfalls in Planung sei eine Technik, die es ermögliche, auch freie Parkplätze an der Straße über Sensoren zu ermitteln. Boris Hedde ergreift daraufhin das Wort und fragt: „Sind Sie als Händler bereit, so ein Projekt zu subventionieren?“ Kaltenkirchen und Berg antworten mit einem synchronen Kopfnicken. Für Joachim Rodenkirch ist die Diskussion um Parkraumkonzepte zu kurz gegriffen. „Die Mobilität wird sich komplett verändern“, sagt er. „Wir verkämpfen uns dort in einem Thema, das in einigen Jahren keine Rolle mehr spielen wird.“
Geschäfte ziehen weniger Besucher an
Wohin aber geht die Reise, insbesondere die des stationären Einzelhandels? Hedde beobachtet seit mehreren Jahren einen Trend. Nur noch wenige Händler seien inzwischen selbst Besuchermagneten, die Kunden in die Innenstadt ziehen. Stattdessen seien Händler deutlich mehr gefordert, dorthin zu gehen, wo sich der Kunde aufhält. Als Beispiele nennt er Popup-Stores, mit denen Hersteller ihre Waren inmitten von Wohngebieten präsentieren, aber auch Tankstellen, die vielerorts mehr und mehr zu einem wichtigen Nahversorger werden. Gerade dieses Thema wurde in Trier erst kürzlich so kontrovers diskutiert, dass letztlich der erste Bürgerentscheid der Stadt den Erhalt der Tankstelle in der Ostallee bescherte. Ein weiterer Beleg sind Discounter wie Lidl oder Penny, die auf großen Musikfestivals wie Rock am Ring eigene Supermärkte auf dem Festivalgelände errichten und die Besucher so vor Ort mit dem versorgen, was sie eben während eines Festivals benötigen. Grillkohle, Ravioli, Dosenbier.
Auch die Gemeinden kämpfen um Kunden
Dass Händler dorthin wandern, wo die Frequenz auch so gegeben ist, belebt aber natürlich nicht die Innenstädte. Neben dem Trend hin zu immer online-affineren Kunden, sehen sich die Städte noch einer anderen Konkurrenz gegenüber – der Kommune von nebenan. Das zeigt das Ergebnis der Studie „Vitale Innenstädte“ von 2016, die Hedde ebenfalls dem Plenum präsentiert. Demnach kaufen 50 Prozent der Einwohner Bekleidung in Geschäften der eigenen Stadt. Rund ein Viertel bezieht das neue T-Shirt aus dem Internet. Allerdings geben 30 Prozent an, auf ein Geschäft in einer anderen Stadt auszuweichen. Ähnliche Verhältnisse herrschen auch bei Schuhen, Schmuck oder Produkten aus der Unterhaltungselektronik. „Der Kampf um die Konsumenten hat begonnen“, sagt Hedde. Um dort zu bestehen, müssen Städte und Händler Mehrwerte schaffen. Hedde sagt: „Händler müssen emotionalisieren.“ Das gelinge über zwei Wege. Sie müssen dem Kunden das Leben einfacher und auch schöner machen. Ideen gibt es viele. Hedde erzählt von einem Spielwarengeschäft, das regelmäßig Männerabende anbietet, getreu dem Motto: „Wecke das Kind in dir.“ Erlaubt sei alles, was den Kunden glücklich macht. Ob ein Konzept funktioniert, kommt auf den Versuch an, weiß Hedde: „Lassen Sie uns gemeinsam trauen, auch einmal Fehler zu machen. Wir müssen sie nur schnell machen und dann entsprechend daraus lernen.“